Albrecht Becker

1906 - 2002

  • untitled, 1974, Photocollage, 28.4 x 20.4 cm
  • untitled, 06.1985, Photocollage, 10.5 x 24.6 cm
  • untitled, 10.1975, Photocollage, 13.2 x 29.7 cm
  • ohne Titel, 1978/1990, Fotografie, 27,3 x 18 cm
  • ohne Titel, 1996, Fotokollage, 15,1 x 17 cm
  • untitled, 1975, Photocollage, 13.3 x 20.6 cm
  • untitled, 1979, Photocollage, 18.5 x 20.5 cm
  • untitled, 1982, Photocollage, 13 x 19 cm
  • untitled, 1960/1990, photography, 29.3 x 20.6 cm
  • untitled, 1964/1990, Photocollage, 13.7 x 11 cm
  • untitled, 1962/1990, mixed media on photography, 21.9 x 13.6 cm
  • untitled, 1995, mixed media on photography, 12.1 x 8.3 cm
  • untitled, 1995, mixed media on photography, 15.1 x 17 cm

Im Herbst 1935 wird Albrecht Becker (1906-2002) von den Nationalsozialisten wegen Verstoßes gegen Paragraph 175, der die Homosexualität in Deutschland noch bis 1994 strafbar macht, zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Fünf Jahre später meldet er sich zum Militärdienst und wird an der russischen Front eingesetzt. Hier entdeckt er für sich das Tätowieren und die Befriedigung durch körperlichen Schmerz. In der Nachkriegszeit und bis in die 1980er Jahre wird er vor allem als erfolgreicher Bühnenbildner und Filmarchitekt bekannt. Er stattet mehr als hunderte Filme aus u.a. Der Hauptmann von Köpenick (1957), Des Teufels General (1955) und wird zweimal für seine Szenografien mit dem Bundesfilmpreis ausgezeichnet.

Beckers erste fotografische Selbstportraits entstehen bereits in den frühen 30er Jahren. Fortan setzt er sich über mehrere Jahrzehnte selbstbestimmt und kompromisslos mit seinem Körper und seiner Sexualität auseinander. Hunderte von Fotografien die über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten aufgenommen werden zeigen eine doppeldeutige Mise-en-scène in der Becker auf mehreren Ebenen Rollenspiele betreibt. Es entstehen performative Szenen in denen Becker seinen Körper als Skulptur präsentiert oder als Leinwand nutzt, ihn bemalt, schmückt und verkleidet. In seinen Sets inszeniert er sich künstlerisch und ist Hauptdarsteller, Regisseur, Drehbuchautor und Kameramann zugleich. Er erzählt Geschichten von vermeintlich entgegengesetzten Versionen seiner Selbst und stellt den kultivierten, adrett gekleideten Herrn in Dialog mit dem sexuell selbstbestimmten Schwulen.

Beckers Fotografien wirken gerade durch die verwendeten technischen Manipulationsprozesse wie eine konsequente Erweiterung seiner Selbsterforschungen. Denn Becker übernimmt nicht nur die Kontrolle über die physische Transformation seines Körpers, sondern verändert ihn auch durch die Manipulation des Bildes, nämlich durch die Verwendung experimenteller Techniken wie fotografischer Vervielfältigung, Mehrfachbelichtung, Spiegelreflexionen, Collage oder der Überarbeitung des Materials in der Postproduktion. Es entsteht ein cleveres Täuschungsspiel auf mehreren medialen Repräsentationebenen, das an die Arbeiten von Pierre Molinier erinnert. Indem sie einzelne Handlungsmomente im statischen Bild festhalten, vermitteln Beckers Fotografien den Eindruck von Filmsequenzen und lassen an die frühen Bewegungsstudien von Eadweard Muybridge denken.

Als Pionier der Körpermodifikation inszeniert Becker in den Selbstportraits seinen Körper als einen Ort veränderbarer und fortlaufender Transformation: ob Gut oder Böse, Zufall oder Absicht - Becker trägt die Konsequenzen der Veränderung seines Körpers mit Würde und Stolz, ähnlich den zeitgenössischen BodMod Künstlern wie Genesis P-Orrige. Beckers Arbeiten liefern eine komplexe, fast filmische Langzeitstudie, die die Veränderungen von Leben und Körper bis ins hohe Alter erfasst und sich dabei mit den Themen der Zeit, Sterblichkeit, Sexualität und Fetisch auseinandersetzt. Seine Arbeit ist, frei von jeglichem moralisch gesellschaftlichen Diktat, gleichzeitig ein Appell an die Toleranz, Menschen so sein zu lassen wie sie möchten. In Zeiten zunehmender Radikalisierung und Intoleranz, in einem wachsenden Klima der Angst erlangt das Werk darüber hinaus eine neue Relevanz.

Becker ist Thema mehrerer Filme und als schwuler Zeitzeuge der Nazizeit in Rosa von Praunheims Dokumentarfilm Liebe und Leid - Albrecht Becker (2005), in Hervé Joseph Lebruns Albrecht Becker, Arsch Fiscker Faust Ficker (2004) sowie in Epstein und Friedmanns Paragraph 175 (2009) zu sehen. Ein Interview mit Becker befindet sich im Visual History Archive der Shoah Foundation, einer von Steven Spielberg gegründeten Organisation zur Erinnerung an den Holocaust. Der britische Künstler James Richards nimmt das fotografische Archiv von Albrecht Becker als Ausgangspunkt für sein Videobeitrag zur 57. Biennale in Venedig What Weakens The Flesh is The Flesh Itself (2017).

Mit besonderem Dank an die Collection Hervé Joseph Lebrun.


Abbildungen: Courtesy Collection Hervé Joseph Lebrun, Delmes & Zander, Cologne.