Tomasz Machcinski

  • Ohne Titel, 1993, Vintage Fotografie, 10 x 7 cm
  • Ohne Titel, 1998, Vintage Fotografie, 10 x 7 cm
  • Ohne Titel, 2005, Vintage Fotografie, 14 x 9 cm
  • Ohne Titel, 2000, Vintage Fotografie, 10 x 8,5 cm
  • Ohne Titel, 1970, Vintage Fotografie, 17 x 12 cm
  • Ohne Titel, 1973, Vintage Fotografie, 9 x 6,5 cm
  • Ohne Titel, 2012, Digitaler Abzug auf Barytpapier, 30 x 21 cm
  • Ohne Titel, 2013, Digitaler Abzug auf Barytpapier, 30 x 20,9 cm
  • Ohne Titel, 2011, Digitaler Abzug auf Barytpapier, 30 x 23,9 cm

Ist Zauberei im Spiel, merkt man das sofort. Ein schlechter Zaubertrick entlarvt sich selbst, ist der Zauber gut, verfällt man ihm direkt.

Lange habe ich überlegt, ob das Selfie in diesem Text eine Rolle spielen soll. Ob dieses vielleicht banalste Bild der Gegenwart überhaupt etwas zu tun hat mit dem, was der Bildermacher erschafft, denn Künstler will er nicht sein, und ist er natürlich trotzdem, dieser Tomasz Machcinski aus der kleinen polnischen Stadt Kalisz. 

Aber es gibt ein Video von Machcinski auf Youtube, darauf erklärt er, wie er zum ersten Mal ein Bild von sich gemacht hat, irgendwann Mitte der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts. Und wie dieser ältere Herr dort ca. 60 Jahre später in seinem Wohnzimmer steht und noch einmal den Arm ausstreckt mit der Kamera in der Hand, um sich selbst abzuschießen - da war es eben. Machcinski benutzt dabei natürlich nicht das Wort Selfie. Er spricht von Licht und Schatten, von Gesichtern und Gestalten und Poesie. Er sagt: „Ich erschaffe Figuren, die gelebt haben, die leben und manche, die erst noch geboren werden.“ 

Die früheste Verwendung des Wortes „Selfie“ im Internet kann für das Jahr 2002 nachgewiesen werden. Es steht für ein fotografisches Selbstportrait, oft auf Armeslänge aus der eigenen Hand aufgenommen. 2013 wurde „Selfie“ vom Oxford English Dictionary zum „Wort des Jahres 2013“ erklärt. Es gilt seitdem auch als Chiffre für die Arbeit am Selbst, den permanenten Druck zur Darstellung des eigenen Lebens, die Inszenierungsspirale, das immer noch schönere Ich, den Körperkult, mediale Schizophrenie und Web-Narzissmus. 30 % der jungen Menschen sehen das Berühmtwerden heute als explizites Lebensziel. 10 Jahre zuvor waren es 14 %. 

Tomasz Machcinski ist nicht berühmt. Ob er es werden wollte? Machcinski wurde 1942 geboren. Er ist der einzige Mann auf der Welt mit Tausend Gesichtern. 25.000, um genau zu sein. Seitdem er zum ersten Mal ein Foto von sich gemacht hat, inszeniert Machcinski sich in immer neuen Rollen. „Ich ist ein anderer“, schrieb der Dichter Arthur Rimbaud 1871 im so genannten „Zweiten Seherbrief“. Und es ist vielleicht die größte Frage dieses unglaublichen Machcinski-Konvoluts, ob er sich seit nunmehr sechzig Jahren eigentlich selbst fotografiert oder 25.000 andere. Machcinski hat sich bisher verwandelt in Charlie Chaplin, Marx, Lenin, ein langhaariger Fixer mit Nadel, Scheich mit Spitzbart, kahlrasierter Häftling, junger Priester mit Hostie, Soldat mit Pfeife, Film-Noir-Kommissar, Nazi-Kommandeur, Biker mit Vollbart, Barde mit Gitarre, D'Artagnan mit Degen und rotem Hut, Biker mit Vollbart und Stahlhelm, „Che“ Guevara, Hippie, Papst, Cäsar, halber Hitler, Jesus. Dazu unzählbare Fantasiegestalten, historische Gestalten, Ritter, Cowboy, Polizist. Und wenn er sich als Frau verkleidet, als Mutter Theresa, glamouröse Hollywoodschauspielerin, Frau beim Einkaufen, dann ist Machcinski noch besser, exaltierter, breiter aufgestellt.

  Man sieht durch seine Bilder die Zeit streichen. Analoge schwarz-weiß Fotos aus den 60er und 70er Jahren, später Digitalfotos. Ein junger Mann, ein alter. Ihr Reiz ergibt sich aber durch das Verhältnis von Virtuosität und Versehrtheit, irgendwann fehlen ihm Zähne, ein Buckel, er trägt keine Perücke, seine Haar sind wie sie sind, mal lang, mal kurz, mal riesiger Bart, mal glatt. Es ist immer er und immer ein anderer - ein obsessives, überwältigendes Verwirrspiel aus Authentizität und Künstlichkeit. Und die Arbeit eines Amateurs, all diese Bilder hat er alleine produziert. Schaut man sie durch, sieht der Künstler, der seine Narben und körperlichen Gebrechen mal ausstellt und mal versteckt, reich aus. Die Perfektion vieler Bilder, sein Blick, das Licht, der Schnitt seines glamourösen Gesichts. Die Stimmung, die auf den 25.000 Gesichtern entsteht und aus den Bildern strahlt, sagt Old-Hollywood, eine campe, wissende Anderswelt, ein fragiler Drahtseil-Dandy. Machcinski kommt aus einer kleinen polnischen Stadt, in der nun er 80-Jährig lebt und immer gelebt hat und in die ein Foto zu ihm gelangt ist, mit dem all das begonnen hat. 

Auf dem Foto, das ihm 1947 von der Schauspielerin Joan Tompkins zugestellt wurde, stand: „With love to Tommy. Joan ‚Mother‘ Tompkins“. Bis Machcinski 20 Jahre alt war, war der Künstler überzeugt davon, dass die große Hollywoodschauspielerin tatsächlich seine Mutter sei. Dann erfuhr er, dass er als Kriegswaise Teil eines ‚Fernadoptionsprogrammes‘ war. Es war das Ende eines Traums. Was ist real? Was ist es nicht? Was ist ein Ich? Die Bilder von Machcinski zertrümmern all diese Fragen.

- Timo Feldhaus